Konjunkturen der Grundeinkommensdiskussion - Update
Der Internetkonzern Google ist seit Jahren dabei, ganze Bibliotheksbestände zu digitalisieren. Seit einiger Zeit bietet er die Möglichkeit an, sich die Häufigkeit bestimmter Worte in diesen Beständen als Grafik anzeigen zu lassen (Google Ngram Viewer). Das eröffnet die Möglichkeit, auch die Konjunktur der Grundeinkommensdiskussion grafisch abbilden zu lassen, und zwar zum Beispiel entlang der Häufigkeit, mit der das Wort „Grundeinkommen“ in den erfassten Buchbeständen vorkommt. Das Ergebnis ist nicht nur anschaulich, sondern trifft tatsächlich die Konjunkturen der Diskussion relativ gut.
Grundeinkommensdebatte im deutschsprachigen Raum
Wie man im Schaubild sieht, gibt es im Wesentlichen drei Konjunktur-Zeiträume in Deutschland: 1.) die 1980er-Jahre, ausgehend vom Soziologie-Kongress in Bamberg 1982 zur „Krise der Arbeitsgesellschaft“, sowie 2.) die Zeit der Einführung der „Hartz-Gesetze“ ab 2002 bis zur europäischen Finanzkrise von 2008. Letztere hat in Deutschland zeitweise zu einer ausgeprägten Konjunkturabkühlung geführt. Die Jahre bis zur Bewältigung der Eurokrise waren keine günstige Zeit für utopisch anmutende Diskussionen zum bedingungslosen Grundeinkommen. Der Kühlschrankeffekt der Eurokrisen-Konstellation begann sich dann allerdings ab 2014 allmählich aufzulösen, sodass mittlerweile von einer 3.) Konjunktur gesprochen werden kann, die sogar das Niveau der vorausgehenden schon deutlich übersteigt. Was in dem Schaubild nicht mehr sichtbar wird, ist zudem die zusätzliche Belebung der Diskussion durch die Corona-Krise.
In den USA liegen die Konjunkturen der Diskussion zeitlich deutlich anders, vor allem, was den ersten Konjunktur-Zeitraum anbelangt:
Grundeinkommensdebatte in den USA bzw. im Bereich "American English"
In den USA gab es in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre bis zur Mitte der 1970er-Jahre schon einmal eine breitere gesellschaftliche Diskussion zur Idee eines guaranteed annual income, die zu bis heute einmalig groß angelegten, staatlich geförderten, sozialwissenschaftlichen „Minimum Income Maintenance Experiments“ in verschiedenen Teilen der USA und Kanada führte und es sogar beinahe zu einer politischen Implementation als Negative Income Tax unter der Nixon-Administration schaffte, bevor das Land dann in der Achsenzeit ab Mitte der 1970er-Jahre einen völlig anderen Pfad der gesellschaftlichen Entwicklung einschlug (Stichwort: Wiedereinführung der Todesstrafe, Ausbau des Gefängniswesens, Workfare, Wirtschaftswachstum auf Pump, forcierte Privatisierung und Deregulierung, usw.). In der damaligen Debatte ging es dabei nicht nur um die Idee einer Negativen Einkommensteuer, wie sie von dem libertären Ökonomen Milton Friedman vorgeschlagen wurde, sondern ebenso um die Variante einer Sozialdividende, also einem echten bedingungslosen Grundeinkommen. Zwar dominierte die Negative Income Tax die politischen Diskussionen im Umfeld der konservativen Nixon-Administration und stand auch bei den staatlich beauftragten Sozialexperimenten im Vordergrund. Aber die gesellschaftliche Debatte war deutlich weiter gefasst und radikaler, mit Fürsprechern eines bedingungslosen Grundeinkommens wie Martin Luther King Jr., Robert Theobald, Margaret Mead, Erich Fromm, Hannah Arendt und anderen.
Die erste Debattenkonjunktur in den USA hat wiederum der zeitlich später liegenden ersten Konjunktur in Deutschland in den 1980er-Jahren viele Stichworte geliefert. Zwar sind die USA erst seit Kurzem wieder dabei, über das Thema breiter zu diskutieren. Aber sie sind allem Anschein nach trotzdem schon im Begriff, sich zu einem zentralen Hotspot der weltweiten Grundeinkommensdiskussion der Gegenwart zu entwickeln.
Nicht zu übersehen ist jedoch, dass für die deutsche, die US-amerikanische und die generelle Geschichte der Grundeinkommensidee aus Großbritannien entscheidende intellektuelle Impulse kamen, dem Land mit der Muße-erfahrenen Gentlemen-Kultur (Stichwort: „Leben, um (frei und selbstbestimmt) zu arbeiten, nicht (bloß) arbeiten, um zu leben.“) mit partieller Kontinuität zur Lebenserfahrung der Aristokratie. Tatsächlich lässt sich ein bedingungsloses Grundeinkommen insbesondere als eine „Demokratisierung der sozialstrukturellen Verfügbarkeit von Muße“ verstehen. Diese Perspektive hat schon Thomas H. Marshall (der Doktorvater des Initiators der ersten Konjunktur in Deutschland, Lord Ralf Dahrendorf, an der London School of Economics) in seiner einflussreichen Abhandlung „Citizenship and Social Class" artikuliert, in der er die Fortentwicklung des Sozialstaats auf die Perspektive einschwor, jeden Bürger schlussendlich zur Gentlemen-Existenz zu verhelfen. Diese Perspektive spielt auch bei vielen anderen britischen Stimmen der Grundeinkommensdiskussion eine wichtige Rolle.[cite]
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