Zwei Pilotprojekte in Indien

von Guy Standing
[Englischer Originaltext erschienen auf “Basic Income News”]
Indien könnte als ein unfruchtbarer Boden für das Grundeinkommen erscheinen. Jahrzehnte lang bestand die Sozialpolitik in der “bureaucratic raj” ("bürokratischen Herrschaft", "bürokratisches Regime"). Durch sie wurden subventionierte Waren angeblich direkt an "die Armen" verteilt, hauptsächlich durch Läden für Lebensmittelmarken. Subventionen wurden allgemein tief in der Gesellschaft verankert, mehr als 5% des BIP (Bruttoinlandsprodukt) ausmachend. Doch in den letzten zwei Jahren hat sich ein außerordentlicher Wandel vollzogen. Plötzlich spricht das ganze politische Establishment über die Vorzüge von "cash transfers" ("Geldzahlungen") als Alternative zu Subventionen.
Der Zeitpunkt für dieses neue politische Interesse ist eher zufällig, planten wir doch schon seit 2008 ein "cash-transfer"-Pilotprojekt, das faktisch ein Grundeinkommenspilotprojekt ist, auch wenn es "universal, unconditional, individual cash transfer" ("universelle, bedingungslose, individuelle Geldzahlung") genannt wird. Es hatte seinen Ursprung in einem Seminar in Ahmedabad am Sitz der "Self-Employed Women Association" (SEWA) in Indien, bei der ich die Prinzipien eines Grundeinkommens darlegte und die Argumente für Universalismus statt Selektivität und Zielgruppenorientierung, sowie Bedingungslosigkeit statt Bedingtheit abwägte. Anfänglich gab es einigen Widerstand gegen die Idee, dass jeder Mann und jede Frau den "cash-transfer" je für sich erhalten soll. Die SEWA-Führer tendierten dazu darauf zu drängen, dass sie nur an Frauen ausgezahlt werden. Zu ihrer Ehrenrettung, sie stimmten schließlich zu, dass sie an Männer und Frauen je für sich ausgezahlt werden, das Geld für die Kinder allerdings an die Mutter oder den Betreuer eines Kindes. Zwar argumentierten zunächst auch einige für eine Konditionalität, aber in einer späteren Sitzung sprachen sich Vertreter lokaler Niederlassungen der SEWA vehement gegen Auflagen aus. Das war wundervoll.
Es dauerte ein Jahr, um das Geld zu sammeln. Währenddessen wurde ein Team von Forschern und SEWA-Leitern gebildet, um die Arbeit zu planen. Es wurde beschlossen, das Pilotprojekt in den Dörfern in Madhya Pradesh durchzuführen. Allerdings während wir planten, ergab sich die Möglichkeit für ein zweites, kleineres Pilotprojekt in einem Stadtteil von Delhi. Es wurde durch die Regierung von Delhi initiiert und unterstützt, und das Projekt-Design spiegelte das auch wider. Das Delhi-Pilotprojekt sah vor, den Haushalten eine "Wahl" zu lassen zwischen der Fortführung des schon bestehenden "PDS" Rationierungsmodells, das auf dem basiert, was "BPL"(Below Poverty Line)-Karten genannt wird, mit denen die Armen ausgestattet sein sollen, oder eben einem monatlichen "cash-transfer". Viele entschieden sich für den "cash-transfer".
Kurz nachdem dieses kleine Pilotprojekt ins Leben gerufen wurde, wurde mit einer Straßenkampagne eine lokale Opposition mobilisiert, und zwar mit der Behauptung, dass wir den Armen Lebensmittel und andere wichtige Dinge wegnehmen wollten, die für einige Menschen gegenwärtig durch die BPL-Karten bereitgestellt werden. Diese Irreführung führte zu Unruhen, die sich gegen unser Team richteten, und zu Druck auf die Bewohner, die sich für den "cash transfer" entschieden, aber dann wieder zu den Rationsleistungen zurückkehrten. Die Besitzer der Lebensmittelmarken-Läden waren daran beteiligt, obgleich die Aktion durch eine so genannte "Right-to-Food"-Gruppe ("Recht-auf-Nahrung") angeführt wurde.
Ab Juli 2011 wurde das Delhi-Pilotprojekt fortgeführt, zum Teil dank der Unterstützung der lokalen Regierung hinter den Kulissen und dem Mut der örtlichen SEWA-Mitglieder. Es gibt sogar Hinweise, dass mehr Einwohner zum Grundeinkommen überwechseln wollen. Wir sind mitten in der zweiten Runde einer Monitoring- und Evaluationsstudie über die Auswirkungen der basalen Transfers. Und es hat durch den "Chief-Minister" von Delhi einen Antrag auf ein zweites Pilotprojekt in einem anderen Gebiet gegeben.
In der Zwischenzeit hat sich das Tempo der politischen Debatte beschleunigt. Es hat einen Presseaufruhr gegeben mit prominenten Kritikern wie Jean Dreze, der behauptete, dass diejenigen, die nach "cash transfers" riefen, den Sozialstaat zerschlagen wollten. Ich habe in mehreren Zeitungsartikeln und Interviews reagiert und wendete mich Mitte Juli an das "National Advisory Committee", das für die Beratung der Kongress-Partei-Führung, und damit auch für die Regierung, zu Fragen der Politik der sozialen Sicherung zuständig ist. Ich habe auch einige Präsentationen bei UN-Organisationen gehalten, darunter ein langes Seminar, das in sieben Städten Indiens als Telekonferenz stattfand.
Inzwischen hat sich das größere Pilotprojekt in Madhya Pradesh voran bewegt. Wir unternehmen alles Mögliche, um nicht aufzufallen, was ein Grund für meine Zurückhaltung ist, den BIEN-Mitgliedern (BIEN = "Basic Income Earth Network") eine Beschreibung zu geben. Einige von denen, die sich "cash transfers" widersetzen, weigern sich die Legitimität von Pilotversuchen anzuerkennen, und wollen sie verhindern.
Gleichwohl, wenn wir auch gewiss kein Interesse daran haben, dass bekannt wird, wo der Pilotversuch durchgeführt wird, sind doch die Grundzüge der Methodik und die Zielsetzungen durchaus erwähnenswert, teilweise weil sie relevant sein könnten für Pilotprojekte in anderen Ländern.
Zuerst haben wir beschlossen, eine Variante einer „randomisierten Kontrollstudie“ (RCT = „randomized controlled trial“) durchzuführen, in der die Bewohner von 8 Dörfern den basalen "cash transfer" erhalten, die Bewohner von 12 ähnlichen Dörfern aber nicht. Zu beachten ist, dass das volle Randomisierungsmodell die "Maßnahme" (hier den "cash transfer") an eine Zufallsstichprobe von Haushalten aus jedem einzelnen Dorf richten würde, um sie dann mit ähnlichen Haushalten zu vergleichen, die keine "Maßnahme" erhalten haben. Im Falle von "cash transfers" wäre das allerdings voller praktischer und moralischer Nachteile. So haben wir uns entschieden, den "cash transfer" jedem Individuum in 8 Dörfern zukommen zu lassen und niemandem in den 12 "Kontroll"-Dörfern.
Teils aus pragmatischen Gründen oder finanziellen Beschränkungen, teils, weil der Betrag rund 40% des Existenzminimums ausmachte, entschied sich das Pilotprojekt dafür, jedem Erwachsenen 200 Rupien im Monat und jedem Kind unter 14 Jahren 100 Rupien im Monat zu geben. Außerdem wurde, wiederum aufgrund finanzieller Grenzen, beschlossen, das Pilotprojekt für 12 Monate laufen zu lassen, obwohl wir ursprünglich 24 Monate geplant hatten.
In Übereinstimmung mit einer schon seit langem vorgeschlagenen theoretischen Position haben wir das Experiment mit einem innovativen Element versehen. Meine Perspektive - die von vielen innerhalb von BIEN geteilt wird - ist, dass ein Grundeinkommen besser funktionieren würde, wenn es mit 'basic Voice' ("basale Stimme") kombiniert würde, d.h. einer kollektiven Körperschaft, die in der Lage ist, die Interessen der Schwächsten zu vertreten. Denn schließlich ist eine Person mit Geld vor allem in Gegenden mit geringem Einkommen in der Gefahr, es an mächtigere Individuen oder Gruppen zu verlieren, wenn es keine Körperschaft gibt, die ihre Ansprüche vertritt und verteidigt.
Dem eingedenk wurde beschlossen, das RCT-Experiment so zu gestalten, dass die Ergebnisse in Orten, wo es keine "Voice"-Körperschaft gibt, verglichen werden können mit jenen, wo es eine solche Einrichtung gibt. Glücklicherweise hatten wir eine gute Möglichkeit, dies zu tun. Denn SEWA ist handlungsfähig und in einigen Dörfern integriert und in anderen nicht. Dementsprechend zogen wir aus der Grundgesamtheit aller "SEWA"-Dörfer und der Grundgesamtheit aller "Nicht-SEWA"-Dörfer im ausgewählten Bezirk eine Stichprobe von vier SEWA- und vier Nicht-SEWA-Dörfern, in denen die basalen "cash transfers" bezahlt würden.
Nachdem die Gestaltungsprinzipien des Pilotprojekts ausgearbeitet worden waren, war die erste praktische Phase die Erstellung einer vollständigen Liste aller Haushalte in den 20 Dörfern, kein leichtes oder schnell zu erledigendes Unterfangen. Als das geschehen war, führten wir eine umfassende Grundlagenstudie aller Haushalte durch, und starteten den "cash transfer" im folgenden Monat. In der Zwischenzeit war allerdings ein weiteres Hindernis zu überwinden. Es war wünschenswert, die "finanzielle Inklusion" sicherzustellen, durch Universalisierung des Weges, auf dem die Personen ihr "cash transfer" erhielten bzw. durch die Gewährleistung eines Bankkontos für jeden. Dies ist ein gewichtiges Thema im heutigen Indien. Die Mehrheit der Bevölkerung ist ohne Bankkonto.
Die Ausgabe von Bankkonten läuft weiter, mit einer Eintragung, wann sie eröffnet wurden, die für alle Personen aufbewahrt wird. Für die ersten zwei Monate wurden die "cash transfers" direkt an die Personen getätigt, mit Teams aus dem Projekt, die an einem vorbestimmten Tag zu jedem Dorf gingen. Das Prozedere war zeitaufwendig, aber zum Glück ohne Zwischenfälle. Wir hoffen, in kürze zu Banküberweisungen übergehen zu können.
Während eine Grundlagen-Erhebung von Haushalts- und Personendaten durchgeführt wurde, wurde auch eine Gemeinde-Erhebung durchgeführt, um Daten auf der Makro-Ebene zu erhalten. Sowohl die Grundlagen- als auch die Gemeinde-Erhebung wird wiederholt, mit Änderungen, die der neuen Periode gerecht werden sollen, sechs Monate nach dem Start des Pilotprojekts, der als Zeitpunkt des ersten "cash transfers" festgelegt wurde. Diese Erhebungen nennen wir "Halbzeit-Erhebungen". Dann, sechs Monate danach, werden die "Schlusserhebungen" durchgeführt.
Bevor das Pilotprojekt ins Leben gerufen wurde, haben wir eine Liste von Hypothesen erstellt im Hinblick auf das Grundeinkommen oder "cash transfers", die den Mitglieder von BIEN alle vertraut sind. Wir werden sämtliche Hypothesen testen und wir hoffen, in den nächsten 18 Monaten einen öffentlichen Bericht und eine Reihe von technischen Papieren erstellen zu können.
Während dieser Zeit rechnen wir mit einer enormen Fortentwicklung der öffentlichen und politischen Debatten in Indien. Es ist unwahrscheinlich, dass sich das Projekt-Team aus diesen Debatten heraushalten wird, selbst wenn es dies wünschte. Die Regierung hat ein offizielles Komitee eingesetzt, um elementare Subventionen zu überprüfen, und zwei "Food Security Bills" stehen derzeit im Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit. Zahlreiche Ökonomen und andere Sozialwissenschaftler haben für oder gegen "cash transfers" Position bezogen, und es vergeht kein Tag, ohne mindestens einen Zeitungsartikel, der die Debatte fortsetzt.
Alles, was man sich in diesem Stadium wünschen kann, ist, dass die Vernunft über die Emotionen siegt und dass sachliche Analysen zu einer besseren Sozialpolitik führen. Die Bedeutung kann nicht überbewertet werden. Immerhin gibt es mehr Menschen in Indien - mehr als 300 Millionen -, die in absoluter Armut leben, als in jedem anderen Land der Welt. Wenn ein Grundeinkommen einen Teil des Weges bestreiten könnte, diese Zahl drastisch zu reduzieren, wäre das ein wundervoller Beitrag. Aber wir müssen mit unseren Füßen auf dem Boden bleiben, da wir schwierige Feldarbeit und Analysen vor uns haben.
ÜBER DEN AUTOR:
Guy Standing ist Professor für “Economic Security” an der Universität von Bath, England, und ein Gründungsmitglied und ehrenhalber Ko-Präsident des “Basic Income Earth Network” (BIEN), einer “Nicht-Regierungsorganisation”, die ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle propagiert. .
Übersetzung: Manuel Franzmann